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Pro musica nova

Radiokunst bei Radio Bremen

Radio zu machen, gutes Radio zu machen, ist schon eine Kunst für sich. Die Meinungen darüber, was gutes Radio ist, unterscheiden sich sehr voneinander, werden aber in heutiger Zeit dadurch relativiert, dass ohnehin nur gut ist, was ‚die Quote erfüllt‘, sprich: gut ist, was die erwünschte Menge an Hörern erreicht. Wie gut, dass sich Radiokunst nie mit dem Problem der Quote konfrontiert sah! Ihre Entstehung fällt in die Zeit vor dem Quoten-Radio. Sie konnte nur entstehen in einem Raum, in dem der Wunsch, das Medium Radio künstlerisch zu nutzen, sich unabhängig vom Quoten-Denken entwickeln konnte, frei von sich anbiedernden Programmideen und -formaten, geradezu rahmensprengend und von Pioniergeist getrieben, zwangsläufig experimentell. Auch beim kleinen Radio Bremen gab es einst einen solchen Raum für Radiokunst.

Als erster erkannt hat ihn der vor wenigen Monaten verstorbene Pianist und Komponist Hans Otte, der von 1959 bis 1984, also ein Vierteljahrhundert lang, Hauptabteilungsleiter Musik bei Radio Bremen war. Nur zwei Jahre nach seinem Amtsantritt gründete er das Festival Pro musica nova, das er eigentlich jährlich durchführen wollte, das dann aber seit 1962 im Wechsel mit der Pro musica antiqua, als Biennale stattfand, und das bis zum Jahr 2000. Hans Otte, Künstler und Radiomann in einer Person, entwickelte mit den Pro musica nova-Festivals und seiner darüber hinausgehenden Produktionstätigkeit ein Zusammenspiel von Kunst und Radio, das – als Ganzes betrachtet – wohl auch mit dem Begriff Radiokunst im weitesten Sinne bezeichnet werden könnte. In der Ära Otte lebten in Bremen Radio und Kunst in einer fruchtbaren Symbiose, die in der ganzen Welt der experimentellen Kunst Aufmerksamkeit und Achtung auf sich zog.

In der Zeit vor dem Formatradio waren großformatige, stundenfüllende Produktionen und Veranstaltungen gang und gäbe, - weil es eben kein Problem war, festgelegte Sendezeiten zu überziehen und die Nachrichten einmal ausfallen zu lassen. Hans Otte hatte die Möglichkeit, experimentelle Kunst und Radiokunst in einem dafür offenen Medium zu präsentieren, und es stellte sich ihm gar nicht die Frage, ob die Klänge, die er sendete, wohl ‚radiophon‘ sein würden. Oft war im Vorfeld sogar unklar, was zu hören sein würde, wenn z.B. John Cage und David Tudor in der Bremer Glocke ihre Stücke Rainforest und mureau II simultan aufführten (1972), wenn Wolf Vostell zu dem elektronischen Happening Umgraben auf einen mit Drähten bespannten Acker in Worpswede einlud, bei dem das Publikum aufgefordert war, den Boden umzugraben und dabei mit dem Spaten Klänge zu erzeugen (1974), wenn Karlheinz Stockhausen in seiner Herbstmusik auf der Bühne Äste und Zweige knacken ließ, wenn Max Neuhaus in seiner elektronischen Installation Underwater Music im Bremer Zentralbad die Besucher aufforderte, sich zum Hören unter Wasser zu begeben (1976), wenn Charlotte Moorman bei ihrer Ice Music for Bremen nackt auf einem Cello aus rosafarbenem Eis spielte und das tropfende Tauwasser aufgezeichnet wurde (1978). In allen Fällen waren die klanglichen Resultate kaum vorhersehbar, besser: nur ungefähr vorstellbar. Und genau deshalb fanden sie im Radio statt. Auch dies eine Form von Radiokunst.

Für den Komponisten und Rundfunk-Mann Hans Otte, dessen künstlerisches Denken vor keinem Genre Halt machte, der visuelle, sprachliche und phonetische Elemente in seine Arbeit einbezog, für den Hörspiele, Theater, Film, Performance sowie Audio- und Videoinstallationen bei seinem Komponieren selbstverständlich waren, musste zwangsläufig auch das Medium Radio als eine Möglichkeit des künstlerischen Ausdrucks ‚bespielt‘ werden, wie gesagt als eine Möglichkeit, nicht als einzige. Aber er hat tatsächlich auch das Medium Radio für künstlerische Aussagen benutzt.

Zum 50. Rundfunkjubiläum in Deutschland präsentierte Hans Otte für Radio Bremen “ein Musikexperiment besonderer Art”, wie es die Pressestelle des Hauses damals formulierte: ”Zum ersten Mal: ein Simultankonzert Bremen/Stockholm”. Weiter heißt es in dieser Presseerklärung: “Am Sonnabend, dem 27. Oktober, werden von 21.15 Uhr - 22.00 Uhr mit Hilfe der n-1-Technik (n minus 1) zum ersten Mal die Studios des Bremer Senders und des schwedischen Rundfunks zu einer Co-Produktion akustisch zusammengeschaltet, um ein Environment zu realisieren, für das Hans Otte, der Leiter der Musikabteilung von Radio Bremen, die Materialien bereitstellte. Es handelt sich um die Uraufführung seines Werkes ‘minimum : maximum’. Karl-Erik Welin und Gerd Zacher, die beiden führenden Organisten der neuen Musik, werden auf verschiedenen mechanischen und elektrischen Tasteninstrumenten einen Klang-Dialog eingehen, der darüber hinaus von parallellaufenden Filmprojektionen in beiden Studios begleitet sein wird. Mit diesem Simultan-Konzert Bremen/Stockholm dürfte ein neuer Beitrag für die künftige Entwicklung technischer Medien geleistet werden.”

Und nicht nur das. Auch in künstlerischer Hinsicht, war dieses Klang/Licht/Geräusch-Environment, wie Otte selbst es nannte, von grundlegender Bedeutung. In einem Brief vom 21.6.1973 schrieb Hans Otte an Magnus Enhörning vom Schwedischen Rundfunk: “Wie Sie wissen, kennt die Phantasie zumal der fortschrittlichen Komponisten keine Grenzen. Bei der kompositorischen Arbeit an diesem, meinem ‚guten Stück’, das in der Art eines Environments gehalten ist – um die Verschmelzung beider Radiohäuser und deren Klangquellen optimal herbeizuführen – und das letztlich die Mannigfaltigkeit eines einzigen musikalischen Ereignisses zu Ausgangspunkt hat, ergab sich nun – ganz im Sinne unseres ‚expanded radio’ – die Möglichkeit, zwei weitere Ereignisse miteinzubeziehen: Einmal, indem der Raum, in dem die beiden Organisten ‚arbeiten’, klanglich mitbestimmt werden sollte und auch das Licht des entsprechenden Studios auf ebensolche Weise mit in den ganzen Vorgang einbezogen werden kann.” Hans Ottes Fantasie war – wie einem Brief an die damalige Sendeleitung Radio Bremens vom Februar 1973 zu entnehmen ist – sogar so weit gegangen, für sein ‚Experiment‘ mehrere Rundfunkanstalten miteinander „zu einer Art live-Konferenzkonzert” zu verbinden, und zwar den „BBC, ORTF, RAI (Milano), SR (Stockholm) und evtl. Hilversum. (…) Was ich dazu bräuchte: 5 Monoleitungen der schon genannten ausländischen Sender zu Radio Bremen, das diese hier mischt und dann die Gesamtsumme ausstrahlt, möglicherweise an eine Vielzahl von angeschlossenen Sendern. Da ich bald schon mit diesen Sendern erste Gespräche über dieses Projekt führen werde, wäre ich dankbar, wenn bald schon die technischen Voraussetzungen hier im Hause geklärt würden.” An der Undurchführbarkeit dieser technischen Anforderungen lag es dann, dass letztendlich nur der schwedische Rundfunk beim Simultankonzert mitwirkte. Ottes ursprüngliche Idee war durchaus umfangreicher und länderübergreifend, im wahrsten Sinne des Wortes grenzüberschreitend. Hans Ottes minimum : maximum wurde als Simultankonzert von Radio Bremen und dem Schwedischen Radio durchgeführt und – da Otte das „Simultaneous concert Stockholm – Bremen on the occasion of ‘50 years radio broadcasting in Germany” der European Broadcasting Union angeboten hatte, waren an dem Abend viele Rundfunkstationen live dabei oder sendeten das künstlerische Radioereignis zeitversetzt.

Mit minimum : maximum ging es Hans Otte darum, „Rundfunk als gegenwärtiges Instrument zu verstehen, das Kommunikation auch im künstlerischen Bereich über weite Strecken möglich macht.” Über den kommunikativen Aspekt dieses Environments hinaus war Hans Otte auch das Thema Wahrnehmung wichtig. Zu hören waren im Sendesaal von Radio Bremen, im Studio des schwedischen Rundfunks und aus ungezählten Radiogeräten ein stimmloses und stimmhaftes „Ich”, die Geräusche von Ein- und Ausatmen, eine Klangfigur von neun Tönen, die auf verschiedenen mechanischen und elektrischen Tasteninstrumenten gespielt wurden und ein Hörtext. Dieser Hörtext ist dreisprachig, beginnt immer mit einer französischen Aussage, der dann die deutsche und englische Übersetzung folgen, z.B. der Anfang: „J’entends - ich höre - I hear.” Andere Aussagen sind: „Wahrnehmung ist nicht teilbar, so alle fünf Sinne funktionsfähig beisammen sind.” Und: „Zwar kann die Aufmerksamkeit auf diesen oder jenen Eindruck bevorzugt gelenkt werden, immer aber werden mehrere Schichten des Sensoriums gleichzeitig erregt werden.” Und auch: „Ich vergleiche. Ich erkenne. Doch auch: Ich erinnere. Ich erwarte. Ich stelle mir vor. Ich suche, entdecke. Ich setze in Beziehung.”

Um die Themen Kommunikation und Wahrnehmung ging es Hans Otte auch, als er 1982 John Cage anlässlich seines 70. Geburtstags zur „Pro musica nova” einlud, um im Bremer Überseemuseum mit mehr als 800 Kindern und Jugendlichen der Jugendmusikschule Bremen dessen A House Full of Music zu realisieren. Der Korrespondenz zwischen Hans Otte und John Cage ist zu entnehmen, dass erste Pläne zu diesem Projekt schon 1979 existierten und Otte es 1980 schaffte, die European Broadcasting Union zu veranlassen, einen diesbezüglichen Kompositionsauftrag an John Cage zu vergeben für eine Uraufführung innerhalb der Pro musica nova. A House Full of Music schrieb John Cage auch im Auftrag der europäischen Rundfunkorganisationen. Live übertragen wurde die Uraufführung am 10. Mai 1982 in der Zeit von 20.30 Uhr bis 23.00 Uhr von Radio Bremen in alle Welt: nach Belgien, Jugoslawien, Washington, Norwegen, Österreich, Italien, Spanien, Schweden und Frankreich. Auch zahlreiche Sender der ARD schlossen sich der Live-Übertragung an.

Mit A House Full of Music – so Hans Otte – mache sich John Cage „einen alten Traum wahr: Gleichzeitig in einer Vielzahl von Räumen Musik aller Zeiten und aller Arten miteinander zum Erklingen zu bringen. Das Überseemuseum in Bremen hat ihn dafür besonders begeistert, und begeistert hat John Cage auch die Idee, dieses Werk ausschließlich von Kindern und Jugendlichen spielen zu lassen.” Cage hatte in einem Brief an Otte angemerkt, es sollten Kinder aller Altersgruppen mitwirken und sie sollten „not yet professional musicians” sein.

An über 50 Orten des Überseemuseums auf mehreren Etagen, die alle in einen gemeinsamen Innenhof münden, spielten also am 10. Mai 1982 mehr als 800 Kinder und Jugendliche Stücke der eigenen Wahl und in allen möglichen Besetzungen, vom Solo bis zum Orchester, von der Klassik bis zum Jazz. Diese Vielzahl von Klängen führte wiederum John Cage nach einem ganz präzisen Kompositionsplan zu einem einzigen Klangereignis zusammen.

Für die Aufführung von A House Full of Music mussten ungefähr 700 Instrumente versichert werden und eine sechsseitige GEMA-Meldung geschrieben werden. Die Realisierung von John Cages altem Traum war ein aufwendiges und aufsehenerregendes Radio-Projekt und in der Geschichte der Radiokunst einzigartig. Ohne Hans Otte wäre es nicht zustande gekommen.

Auch nach Hans Ottes Weggang von Radio Bremen 1984 hat es im bremischen Funkhaus Projekte gegeben, die speziell für das Radio konzipiert waren. Eines davon hieß „orten: straßenbahndepot flughafendamm, bremen”. Es war die „Realisierung einer Musique concrète” von Jens Carstensen zur Eröffnung der Pro musica nova am 30. April 1998 in Zusammenarbeit mit Andres Bosshard, Christof Cargnelli, Harald Kügler, Peter Szely und Werner Neff. Zum Auftakt des Festivals stiegen die Besucher am Hauptbahnhof in eine Straßenbahn, um dort aus den Lautsprechern bahnfahrend die ersten Klänge der Pro musica nova zu hören, die gleichzeitig auch im Radio übertragen wurden. Diese Klänge basierten auf Aufnahmen aus der Straßenbahnreparaturwerkstatt am Flughafendamm, das verschiedenste Klangbearbeitungsmaschinen durchlaufen hatte und mittels diverser Übertragungssysteme an seinen Ursprungsort zurückkehrte. Von dort wurde es über das Radio in die Lautsprecher der Straßenbahn geschickt, die die Zuhörer direkt in das Straßenbahndepot am Flughafendamm brachte. Ausgestiegen aus der Straßenbahn konnte sich das Publikum vor Ort auch einen optischen Eindruck von der Erzeugung der Klänge machen. Jens Carstensen merkte dazu an: „Orten ist ein Verfahren, sich einem Raum zu nähern, ihn zu untersuchen, zu vermessen, um seinen Standort zu bestimmen (in der Straßenbahn, zu Fuß) (Ist das Medium die Botschaft?).“

Ein weit über Bremen hinausgreifendes Radio-Projekt wurde 1999 von Radio Bremen in Zusammenarbeit mit der RAI, dem niederländischen Radioprogramm NPS und dem Goethe-Institut Rom in einem Produktionssaal der RAI in Rom realisiert und live in Italien und von Radio Bremen übertragen. Radio Lines: La Voce, eine musikalische Radio-Performance”, ein Radio-Ereignis, war den verschiedenen Aspekten der Stimme (gesungen, gesprochen, aufgezeichnet, gegenständlich, gemixt, verfremdet) gewidmet. Der Leitgedanke dabei war, die zentrale Rolle der Tonmischung bei Radioproduktionen und die Live-Produktion eines Radiowerks zu zeigen. Jede der drei beteiligten Rundfunkanstalten brachte zwei Musiker auf die Bühne, wovon jeweils einer mit der Stimme arbeitete und der andere diese Vokalklänge mit Hilfe von Computer, Sampler und Mischpult bearbeitete, sie zeitlich veränderte und kreativ umgestaltete. Im Mittelpunkt der Produktion und Performance stand dabei nicht der Vokalkünstler, sondern der Radiokomponist. Im ersten Teil der Aufführung traten nacheinander die drei Künstlerpaare auf, im zweiten Teil improvisierten zunächst alle sechs nach vorgegebenen Strukturen, um dann durch einen sogenannten ‚master controller‘ zentral live gemischt zu werden, der im Wechsel mit den Partnern vom jeweiligen zentralen Mixer entschied, wie gemischt wurde und wer aufeinander reagieren sollte. Im Programmheft war zu lesen: „Das Projekt veranschaulicht die besondere Rolle des Radios unter dem Gesichtspunkt von Technik und Einfluss neuer Technologien ebenso wie unter künstlerischen Gesichtspunkten. Es ist ein spezifisches Radioprojekt, das außerhalb des Radios undenkbar wäre. So könnte das Projekt dazu beitragen, das Vorurteil von der angeblich nur noch nostalgischen Rolle des Radios zu zerstreuen und dieses Medium ganz im Gegenteil als Zukunftsmedium zu stärken.”

Hoffentlich kein frommer Wunsch. Radio Lines: La Voce wurde im Jahr 2000 als ARD-Beitrag für den Prix Italia nominiert. Im selben Jahr fand die Pro musica nova zum letzten Mal statt.

Marita Emigholz