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Radio as Art – oder was ist Radiokunst?

Radiokunst – das sind Werke, die Künstler*innen speziell für das Radio entwickelten: Klang- oder Geräuschkompositionen, Hörspiele, Aktionen oder Konzerte, Sound Performances, Satelliten-Klangskulpturen, Soundscapes, Radiokunstinstallationen, vernetzte (Medien-)Projekte bis hin zur elektroakustischen Musik. Radiokunst bewegt sich in einem künstlerisch interdisziplinären Bereich im Kontext der bildenden Kunst, der experimentellen Literatur und der Neuen Musik. Diese Breite zeigt sich ebenfalls in den Kunstströmung, in denen die verschiedenen Werke der Radiokunst verortet werden können: Conceptual Art, Conceptualism, Elektroakustische Kunst, Elektronische Musik, Digitale Musik, Fluxus, Land Art, Lautpoesie, Mail Art, Minimal Art, Musique Concrète, Neue Musik, Performance, Pop Art, telematische Kunst, Videokunst, Visuelle und Konkrete Poesie, usw.

Die Auseinandersetzung der Künstler*innen mit dem Medium Radio erfolgte zum einen auf einer institutionellen und zum anderen auf einer autonomen Ebene. Die Künstler*innen, die in ihren Ateliers oder in lokalen Radiosendern seit den 1960er Jahren Radiokunstsendungen produzierten, haben das Radio als Informations- und Kommunikationsraum verstanden und zum größten Teil mit den einfachsten Mitteln gearbeitet. Auf dieser Basis wurde mit alltäglichen Gegenständen und oft simpelster Technik improvisiert, aber so dass konzeptionell, im Sinne einer – auch von M. Glasmeier im Kontext der Fluxus-Bewegung formulierten - „Ökonomie der Mittel“, Werke mit einer besonderen künstlerischen Prägnanz entstanden. Diese beruht auch auf der Unabhängigkeit von den Regeln und Normen großer Institutionen und den ästhetischen Vorstellungen von Redakteuren und Regisseuren. Dagegen konnten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkstationen, insbesondere in Deutschland, den Künstler*innen seit den 1960er Jahren Produktions- und Sendemöglichkeiten bieten, die sie nirgendwo anders bekamen. Sie erhielten Zugang zur Infrastruktur und zu den modernsten Produktionsstudios, unter anderem den speziellen Hörspielstudios, wodurch viele Werke erst möglich wurden. Bei ihren Projekten unterstützten sie gut ausgebildete Tontechniker, wobei manche Tontechniker allerdings kein Verständnis für die Vorstellungen und Wünsche der*die Künstler*in aufbringen konnten und eine Zusammenarbeit nicht zustande kam. Weiterhin wurden auch ihre Soundarbeiten, die auf Schallplatten vorlagen und sich nicht auf das Medium Radio bezogen, bzw. als Radiokunst bezeichnet werden können, ausgestrahlt. Durch gebührende Honorare für Auftragsarbeiten konnten Sender wie der WDR die Künstler*innen unterstützen und fördern. Doch deutschlandweit und auch international gesehen waren es insgesamt nur wenige Künstler*innen, die Aufträge öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten erhielten.

Bei der gesendeten Radiokunst kann zwischen originären Radiokunstwerken, vernetzten Projekten und Werken im Kontext des Expanded Radio unterschieden werden, um Radiokunst zu bestimmen oder radiophone Werke einzuordnen.

Originäre Radiokunst umfasst Werke bildender Künstler*innen, die speziell für das Senden im Radio konzipiert wurden und in der Regel das Medium reflektieren. Diese oft live ausgestrahlten und unvorhersehbar ablaufenden Sendungen stellen Radio von Künstler*innen im ursprünglichsten Sinne dar. Grundlage der Radiokunstwerke ist ein Konzept, das häufig in einer Partitur, bzw. verschriftlichten oder gezeichneten Form festgehalten ist, wobei Sprache oder Klang als Material im Vordergrund stehen, und nicht eine Narration oder Erzählung. Die einzelnen Genres oder Arten, in denen die Radiokunst vorkommen kann, basieren auf dem Sound und zeigen gleichzeitig die Vielfältigkeit der Konzeptionen und künstlerischen Umsetzungsmöglichkeiten auf: Collage, Diskussion, Dokumentation, Feature, Hörspiel, Hörstück, Komposition, Konzert, Livemix, Mixed Media, Geräusch, Performance, Remix, Roadmovie, Radioessay / radiophoner Text, Sound Scape, Soundskulptur, usw.

Die Radiokunst manifestiert sich in einzelnen Reihen, Projekten oder Sendungen. Sendereihen sind mit einzelnen Programmen wie dem Kunstradio beim ORF identisch, die sich expliziert in ihrer Gesamtheit der Radiokunst in ihren unterschiedlichen Formen widmen. Sendereihen können sich über ein Jahr oder aber über mehrere Jahre oder Jahrzehnte erstrecken. Radiokunst-Projekte sind im Kontext der gesendeten Radiokunst unter einem Titel zusammengefasste Radiosendungen, wobei einzelne Arbeiten unter einem Thema oder von verschiedenen Künstler*innen zusammengestellt werden. Sie stellen bestimmte mehr oder weniger festgelegte Sendefolgen in einem zeitlich festgelegten Sendezeitraum dar und können sich über wenige Tage, Wochen oder Monate erstrecken. Bei Einzelsendungen handelt es sich um Radiokunstwerke, die von Künstler*innen unabhängig von Sendereihen oder Projekten, bzw. vereinzelt in den verschiedensten Sendeanstalten realisiert wurden. Sie sind von einem oder mehreren Künstler*innen produziert worden.

Vernetzte Projekte stellen umfangreiche medien- und in der Regel länderübergreifende Radiokunstprojekte an sich dar, die zeitgleich oder zeitlich versetzt unter einem Titel stattfinden, nicht selten in Verbindung mit Veranstaltungen wie Performances, Festivals oder Ausstellungen. Über Telefon, Internet, Radio- und / oder Satellitenübertragung arbeiten Künstler*innen gleichzeitig an mehreren Orten - in Sendeanstalten, Kunsthäusern wie Museen oder Galerien, Konzerträumen, Ateliers, Öffentlichen Räumen wie Universitätsgebäuden oder Orten im öffentlichen Raum - in verschiedenen Ländern und gelegentlich weltweit vernetzt, um ein gemeinsames zeitlich befristetes Kunstwerk zu schaffen. Im Zentrum steht die vernetzte Produktion der Künstler*innen, und nicht unbedingt das, was von den einzelnen Künstler*innen produziert und ins Netz entlassen wird.

Es können drei verschiedene Levels der vernetzten Projekte unterschieden werden, die je nach Konzeption unterschiedlich ablaufen. An reinen Rundfunkprojekten sind mehrere Sendeanstalten beteiligt, die auf der Basis einer genauen Partitur Produktionen erstellen. Sie werden entweder direkt simultan gesendet, oder aber erst zu einer Mischung entsprechend der Partitur zusammen gebracht, und dann simultan gesendet. Die Stationen sind sozusagen verteilte Stimmen in einem verteilten ‚Radioorchester’ mit einem ‚Dirigenten’. Auf einem zweiten Level sind Künstler*innen an unterschiedlichen Orten vernetzt, die sich an der gemeinsamen Produktion beteiligen, wobei jedoch in der Regel ein*e Künstler*in auf der Basis seiner Partitur Regie führt. Am komplexesten sind vernetzte Projekte bei denen alle beteiligten Knotenpunkte, ob Sendeanstalt oder Einzelkünstler*in in seiner Wohnung oder seinem Studio gleichberechtigte Partner sind, die gleichzeitig senden und empfangen und das Empfangene bearbeiten und wieder senden. Vor Ort können die verschiedenen Streams in Radiosendungen, Performances oder Installationen einfließen und so als unterschiedliche Teil-Versionen des Gesamtprojektes auch von einem lokalen Publikum empfangen werden. Solche an einzelnen Knoten des Netzwerkes entstehende Versionen können selbst wieder in das Netz eingegeben werden. Es ist ein permanenter Austausch, bei dem nichts bleibt und sich alles verändert, ein dauerndes sich veränderndes Geben und Nehmen, bei dem das Ganze nicht zu erfassen ist. Alles was z.B. von den einzelnen Radiostationen in ihrer mehr oder weniger begrenzten Sendezeit ausgestrahlt wird, kann nie mehr sein als ein Ausschnitt, eine lokale Auswahl aus dem Gesamten, eine kleine Version eines viel größeren Gesamtwerkes. Die einzelnen künstlerischen Beiträge können von der Lesung über das Konzert, die Installation oder Performance alles Mögliche umfassen, ohne unbedingt selbst ein Radiokunstwerk im engeren Sinne zu sein.

Objekte, Netzkunstwerke, Environments, Interventionen oder Installationen, die auf der Basis von Radio-, bzw. Übertragungstechnologien konzipiert worden sind, bilden einen Bereich der Radiokunst an sich, der außerhalb des Rundfunks besteht und häufig auch als Expanded Radio bezeichnet wird. In der Fülle der technischen Übertragungs- und Kommunikationsmedien, die von der Erfindung der Radiotechnik aus entwickelt wurden, spielt es dabei fast keine Rolle welche Übertragungstechniken (Slow Scan, GPS, usw.) die Künstler*innen für ihre Werke letztlich nutzten, zentral ist die künstlerische Intention oder Konzeption, die sich am Radio und seinen medialen Formen orientiert. Nicht wenige Künstler*innen haben mit ihren Installationen das Paradigma und die Formen des Radios als Massenmedium kritisiert und alternative Kommunikationsmodelle entwickelt. Die Werke sind in der Lage Informationen zu übertragen, empfangene Signale auszugeben oder aus sich heraus zu senden. Sie werden zum einen verstärkt auch der Medienkunst oder Telekommunikationskunst zugeordnet, und zum anderen der gesendeten Radiokunst, da ihre Soundversionen wiederum im Rundfunk gesendet werden können. Bei solchen gesendeten Radioversionen handelt es sich dann meistens nur um einen oder mehrere Ausschnitte aus dem gesamten Soundmaterial, die exemplarisch für das Werk stehen. Die autorisierte Auswahl der jeweiligen Künstler*innen macht sie zu einem eigenständigen Werk im Kontext des Sendens.

Anne Thurmann-Jajes